„Bommar” – wie man die Holzfuhrleute nannte – ziehen mit ihren Gespannen den Holzlagerstätten in einem Hochtal zu.
An einem langen Winterabend des Jahres 1983 saß ich in der gemütlichen Wohnstube des Martin Thannheimer (Mumme Marte) und unterhielt mich mit dem Hausherrn über längst Vergangenes. Martes Frau, Marie, saß anfänglich auch bei uns, ging aber dann zur Kirche, weil da für einen verstorbenen Bekannten ein Rosenkranz gebetet wurde. Marte und ich saßen am Stubentisch; die Lampe darüber gab nur schwaches Licht ab, der übrige Raum lag im Halbdunkel. Es war so richtig die Stimmung, um in der Vergangenheit zu kramen.
Natürlich interessierte mich besonders die Geschichte von den „Bommarn”, den Holzfuhrleuten, die im Dezember 1923 von Schneemassen im Rappenalptal eingeschlossen waren. Ich wollte aber nicht mit der Tür ins Haus fallen und als neugieriger Fragesteller auftreten. Marte sollte mir aus freien Stücken die Geschichte erzählen. Langsam lenkte ich deshalb das Gespräch in Richtung Waldarbeit, Holzfuhrwerk, Winter und Schnee. Jetzt begann Marte ungekünstelt und ohne Pathos aus dem Schatz seiner reichen Erinnerung zu erzählen. Aus vielen Alpsommern kannte ich die Örtlichkeit des Geschehens genau, konnte mir somit das soeben Gehörte bildlich einprägen und – ich unterbrach den Erzähler nicht.
Er war zu der Zeit, als er mir alles erzählte, neben Heinrich Käufler der einzige noch lebende Beteiligte. So wie Marte es mir, 60 Jahre nach dem Geschehen, geschildert hat, versuche ich nun die Geschichte zu schreiben.
Im Rappenalptal, ganz hinten im Rappenalper Hof, unter dem steilen Abhang des „Brenntewinggere”, steht die Waldarbeiterhütte des Staatsforstes. Das aus Rundholz aufgeführte Bauwerk erhielt vor vielen Jahren einen fast schwarzen Schutzanstrich und daher hatte die Hütte ihren Namen „Schwarze Hütte”. Im Volksmund wurde sie auch „Teufelshütte” genannt. Eben diese Hütte, mit dem angeschlossenen Stall, diente im Sommer über Wochen den Waldarbeitern des Forstamtes Sonthofen als Unterkunft und beherbergte im Vorwinter die Holzfuhrleute samt ihrer vierbeinigen Helfer.
Normalerweise zogen die Holzfuhrleute beim ersten Schnee ins „Tal”, weil da die Schneemengen wohl ausreichten, aber noch nicht im Übermaß lagen. Das Jahr 1923 war aber kein normales Jahr, denn die Inflation trieb ihrem Höhepunkt entgegen, Holzpreise und Arbeitslöhne kletterten im Herbst in astronomische Höhen. Dieser Umstand verhinderte immer wieder den Arbeitsbeginn im Rappenalptal.
Erst am 14. Dezember machte sich eine Vorhut von vier Mann auf den Weg zur Schwarzen Hütte. Diese hatten den Auftrag, Vorbereitungen am Weg und in der Hütte zu treffen. Beladen mit Werkzeugen, Pferdefutter, Kleidung, Lebensmitteln, Decken und weiterem Gerät folgten am anderen Tag, einem Samstag, die acht Schlittengespanne.
Von Oberstdorf stehen als Fuhrleute zwischen den Schlittenhörnern: Timotheus Brutscher (Nazeles Mothes), Xaver Hofer (Hofas Xavere), Hans Huber (Wilde Hans), Hans Schratt (Hänsles Hans) und Martin Thannheimer (Mumme Marte) als Fuhrmann bei Anton Huber. Von Schwand, Anatswald und Birgsau gesellen sich noch Alois Stoß (Fuhrmann bei Karl Tauscher, Schwôndwirts Karle), Heinrich Käufler (Petre Heinrich) und Otto Zwick (dr Moritzar) und dessen Tochter Senzl, die der Männerwirtschaft den Haushalt führt, hinzu.
Der Staatsforst hatte am Biberalper Hof und an weiteren Stellen des Tales größere Hiebe schlagen lassen. Nun warten mehrere hundert Kubikmeter Stammholz auf den Transport zum Bahnhof Oberstdorf, wo es auf die Schiene verladen werden soll. Aufgeteilt in verschiedene Lager in der näheren und weiteren Umgebung der Hütte lagern die 4,50 Meter langen Stämme. Noch am Abend des Ankunftstages werden die ersten Fuhren auf die schweren Baumschlitten geladen und diese auf quergelegte Knüppel gestellt. So kön- nen die Schlittenkufen, die „Sohlen”, nicht im Schnee festfrieren.
Obwohl es Sonntag ist, beginnt mit dem Füttern der Pferde um 5.30 Uhr morgens das neue Tagwerk. Die Wetterlage zwingt auch am „Tag des Herrn” zu arbeiten. Nach einem kräftigen „Moargeeasse”geht es bei noch völliger Dunkelheit mit den Fuhren talauswärts. Bei der Steigung an der Buchrainer Alpe, dem „Beruine”, wird die Hälfte der Stämme abgeladen und mit dem Rest, dem „Schuss”, die steile Anhöhe genommen. An der Geländekuppe werden die Schlitten entladen und der zurückgelassene Rest der Fuhre nachgeholt. Nahe der Alphütte des „Beruine” türmen sich alle Stämme zu einem großen Baumlager. Von hier sollen sie zu einem späteren Zeitpunkt nach Oberstdorf transportiert werden. Wichtig ist jetzt, aus dem lawinengefährdeten Rappenalptal das Holz herauszubringen. Nachdem die restliche halbe „Läde” entladen ist, treten die „Mähnen” ihren Rückweg an.
Während nahe der Schwarzen Hütte die Baumschlitten neu beladen werden und anschließend die hungrigen Fuhrleute an Senzls Schüssel sitzen, können sich die Rosse stärken. Gleich danach geht es mit der zweiten Fuhre talauswärts. Drei Fahrten schaffen die Gespanne an einem Arbeitstag, dann bricht die Dunkelheit das harte Tagwerk für Mensch und Tier draußen ab. Mit dem Füttern und Tränken der Pferde, dem Trocknen von Pferdegeschirr, Schuhen und Kleidung und schließlich einem deftigen Abendessen geht der arbeitsreiche Tag zu Ende. Während Senzl noch aufräumt, rauchen die Männer ihre Pfeifen und besprechen mit wenig Worten die Arbeit des morgigen Tages. Dann ziehen sie sich auf ihr karges Heulager zurück. Nach einem solchen Tag schlafen sie dort besser, als mancher Gast im Daunenbett des Grandhotels.
Am Montag macht der Wettergott schon ein mürrisches Gesicht und lässt am Dienstag, dem 18. Dezember, Schneeflocken vom Himmel fallen. So lange es kalt bleibt, herrscht, neben der Erschwernis durch den Neuschnee, nur eine mäßige Lawinengefahr. Sollte es aber zu einem Temperaturanstieg kommen, dann bedrohen auf weiten Teilen der Wegstrecke große Lawinen die Fuhrleute und ihre Pferde.
Fahren, fahren und nochmals fahren, so lautet die Devise, denn nur so kann der „Weg”, d. h. die Schlittenspur erhalten bleiben. Tag für Tag schneit es nun. Die abends geladenen Holzfuhren müssen jeden Morgen abgeschaufelt werden. Mittlerweile liegen über zwei Meter Neuschnee.
Für Mann und Ross bedeutet dies täglich Anstrengung bis zur Erschöpfung. Die Tiere spüren allmählich die Gefahr. Ein aufgeregtes Pferd schlägt aus und verletzt Wilde Hans so, dass er nach Oberstdorf muss. Wohl lenkt er mit zusammengebissenen Zähnen das Gespann samt Ladung noch bis zur Buchrainer Alpe, aber dann muss er zum Arzt gebracht werden. Mathias Zwick, der Sohn des Otto, übernimmt Hansens Gespann.
Eine harte Woche liegt hinter den Männern, als endlich der Sonntag, der 23. Dezember, anbricht. Es ist dies nicht der „Goldene Sonntag” mit feierlicher Vorbereitung für die morgige Bescherung, nein, es wird ein knallharter Arbeitstag. Will man nicht jede Möglichkeit des Rückzuges nach Oberstdorf verlieren, muss den ganzen Sonntag gefahren werden.
Und dann ist es soweit – der Schnee fällt in Klumpen von den Bäumen. Immer und immer wieder müssen den Pferden, mit einem Schlag auf das Eisen, die unter den Hufen angesammelten Schneestollen entfernt werden. Argwöhnisch blicken die Fuhrleute nach oben, wo über den Felswänden und in den steilen Bergflanken die riesigen Schneemassen drohen. Was sollen wir tun? – so beratschlagen die Männer, als sie nach großen Strapazen die Buchrainer Alpe mit ihren „Baumläden” erreichen. Die alten, besonnenen Fuhrleute raten, die Senz aus der Hütte zu holen und die Arbeit einzustellen. Das aber würde bedeuten, den Akkord und damit den Verdienst für diesen Winter zu vergessen. Für die jungen Heißsporne ist dies das Argument um weiterzufahren, denn woher sollten sie Arbeit bekommen in dieser schwierigen Zeit? Vielleicht lässt der Schneefall doch nach und es sinken die Temperaturen, dann kann weiter gefahren werden, wird argumentiert. Aber das ist nur möglich, wenn jetzt auch gefahren wird und der „Weg” erhalten bleibt, meint diese Gruppe. Schließlich gibt es mehr Für als Wider und mit gemischten Gefühlen lenken die Fuhrleute ihre Gespanne zurück ins Rappenalptal.
Schon bald stellen die Männer kleine Lawinenabgänge fest. Den Pferden werden die Rollen, das sind kugelrunde Schellen am Rosskummet, abgenommen. Die geringste Schwingung, schon ein lauter Ruf können jetzt möglicherweise eine Lawine auslösen. Zur harten körperlichen Arbeit kommt jetzt noch diese Belastung hinzu. Die Nerven liegen blank. Jeden Augenblick kann der „Weiße Tode” ins Tal rauschen, das wissen die Männer. Die Gespanne halten große Abstände ein, sodass bei einem möglichen Lawinenabgang nur ein Fuhrwerk erfasst würde und die anderen Männer Hilfe leisten könnten. Der Rückweg, selbst mit leeren Schlitten, wird für Menschen und Pferde zur Schinderei.
Bei der Hütte angekommen, wird nicht gerastet, nein, der Weg zu den Baumlagern muss erhalten bleiben. Doch benötigen die Gespanne für die Fahrt zu den nahen Baumlagern und zurück zur Hütte die vielfache Zeit des Normalfalles. Die Rosse dampfen und den Männern klebt die Kleidung am Leibe. An eine neuerliche Fahrt zum „Beruine” ist unter diesen Umständen nicht zu denken. Also, Pferde füttern, dann geht es schnell an Senzls dampfende Schüssel. Fast vergeht den Männern der Appetit, als der Jagdgehilfe Michl Berktold (Seraphine Michl) und Franz Käufler (Petre Fronz), der Bruder des Heinrich, auf Skiern kommen und nur Hiobsbotschaften mitbringen. Deren Bericht lautet: Birgsau ist von Oberstdorf abgeschnitten. Von der Buchrainer Alpe bis Birgsau liegt der Schnee meterhoch auf dem Weg. Auf dem gesamten Rückweg donnern da und dort Lawinen ins Tal.
Erneut bereden die berggewohnten Fuhrleute die sich stündlich verschlechternde Situation. Weitermachen? - Rückzug? - diesmal ist die Beratung kurz. Die Natur ist stärker, also zurück nach Oberstdorf. Sofort geht das aber nicht, denn in einigen Stunden wird es Nacht sein. Also, dann morgen früh!
Was würde der Morgen bringen, das bereitete allen tiefste Sorgen. Der Weg durch den Rappenalper Hof wird sehr gefährlich sein. Der Moritzar meint deshalb, heute noch einen neuen Weg über das „Eldrach” anzufahren, weil die zu erwartenden Lawinen aus den „Bärengängen” dort nicht mehr so gefährlich seien und morgen dann schon ein Stück des zu gehenden Weges halbwegs gebahnt sei. Als die Fuhrleute dies vor der Schwarzen Hütte besprechen, stiebt vom Taufersberg eine Lawine herunter und hüllt die Männer samt Hütte in eine dichte Schneewolke ein. Als diese sich legt, fehlen einige Tannen in unmittelbarer Nähe der Hütte. Der Luftdruck der Lawine hatte sie gleich Streichhölzern gebrochen. Deutlicher kann der Ernst der Lage nicht demonstriert werden.
Voraus die beiden Skifahrer, dann sechs Mann je ein Pferd am Zaum führend – die Pferde ohne Schlitten und Geschirr – und am Ende zwei Pferde mit leeren Schlitten, so setzt sich die Kolonne in Bewegung. Nach kaum fünfzig Metern müssen Pferd und Fuhrmann an der Spitze gewechselt werden, zu groß sind die Anstrengungen. Hinter den beiden Skiläufern arbeiten nun zwei Männer mit Schneeschaufeln, um dem ersten Pferd die Arbeit etwas zu erleichtern. Oftmals schaut von dem ersten Ross nur noch der hocherhobene Kopf aus dem Schnee. Auf dem Pferderücken fallen die Schneemassen wieder zusammen.
In dieser Situation wird die Gruppe von einer Staublawine aus den „Rappengleyern” überrascht. Ein Entrinnen gibt es nicht. Da hilft nur, das Gesicht bedecken und – beten. Die eigentliche Lawine erfasst die Gespanne nicht, doch durch den Luftdruck dringt Schneestaub bis in die Atemwege von Mensch und Tier. Die Leute glauben ersticken zu müssen. Die Pferde zittern vor Angst, aber es muss weitergehen. Unter unsagbaren Mühen erreichen die Männer mit ihren Pferden den alten Weg dort, wo heute die Talstation der Rappenseehütte-Seilbahn steht. Immer noch hoffen die Männer auf eine Besserung der Lage. Nach kurzer Rast versuchen sie den Rückweg zur Hütte.
Was jetzt geschieht, kann nicht treffender geschildert werden, als dies Max Förderreuther nach den Aufzeichnungen von Seppl Joas in dem Aufsatz »Lawinen im Rappenalptal« getan hat:
„Kaum setzen sich die Leute wieder in Bewegung, da kommt dicht vor ihnen eine große Staublawine aus dem Rappenalptobel herangebraust. Alles ist eine Staubwolke, es wirbelt und tobt wie in einem Hexenkessel. Die Pferde zittern vor Angst, die Männer denken, ihr letztes Stündlein sei gekommen. Gott sei Dank ist’s noch gnädig abgegangen. Wären sie nur wenige Minuten früher aufgebrochen, so lägen sie jetzt alle unterm Schnee begraben. Doch halt, einer fehlt – der Berktold Michl! Man sucht, man ruft. Da kommt Antwort, er ist jenseits der Lawine. Er hatte noch den Weg ausgebessert und sich dadurch von den anderen getrennt. Als er die Lawine kommen sah, hatte er gerade noch Zeit zurückzuspringen.
Jetzt überschaute man die Lage. Was man kurz vorher mühsam ausgeschaufelt hatte, ist wieder zugedeckt. Mehr als zweihundert Meter breit und so hoch wie ein Bauernhaus, das ganze, hier ziemlich enge Tal abschließend, liegen die Schneemassen – sie haben den Rückzug zur Teufelshütte abgeschnitten. Durchstechen kann man diesen ungeheuren Wall nicht. Wird man mit den Pferden drüber wegkommen? Man versucht es. Aber schon nach wenigen Minuten bricht das erste Pferd durch und muss mühsam freigeschaufelt werden.
Also zur Teufelshütte kann man mit den Pferden nicht mehr zurück. Was tun? Talauswärts liegt, etwa einen Kilometer entfernt, die Breitengerenalpe. Dorthin will man sich wenden. Freilich, auch diese kurze Strecke ist aufs höchste gefährdet: Die gefürchtete Löffler-Lähne, die von dem steilen Taufersberg herabdroht, ist noch nicht unten. In größter Eile macht man sich auf den Weg. Die Alphütte wird glücklich erreicht. Die Türen werden freigeschaufelt, vier Pferde im Kuhstall, die vier andern in einer kleinen Nebenhütte untergebracht.
Noch ist nicht alles versorgt, da braust schon die Löffler-Lawine mit solcher Wucht daher, dass sie am andern Berghang bis zum Waldrand wieder in die Höhe fährt. Der Weg, den die Leute eben zurückgelegt haben, ist völlig verschüttet.
In der Hütte findet sich etwas Wildheu zum Füttern der Pferde. Aber man braucht für die Nacht doch noch Essen für die Leute und Haber für die Pferde; auch Decken und Licht. Michl Berktold und Franz Käufler übernehmen es, das Nötige aus der Teufelshütte zu holen. Die Fuhrleute nehmen sich um ihre Pferde an, die von den ungeheuren Anstrengungen ganz ermattet sind und in der kalten Stallung frieren, dass sie zittern. Man reibt sie mit Streu tüchtig trocken. Nachdem die Pferde versorgt sind, machen sich fünf Mann: Timotheus Brutscher, Xaver Hofer, Mathias Zwick, Martin [Förderreuther schrieb fälschlich Michael] Thannheimer und Hans Schratt auf den Weg zur Teufelshütte, um Proviant und Futter für den nächsten Tag zu holen und auch die Senzl mitzunehmen. Bei dem Rappenalper Hof begegnen sie den zwei anderen, die Decken, Licht und Essen bringen.
Kurz nachdem diese Zwei in der Breitengerenalpe abends halb 8 Uhr bei tiefer Dunkelheit angekommen sind, zittert und kracht die Hütte in allen Fugen. Von den „Bachzeichen” ist eine Lawine über die Hütte hinweggegangen. Die Türe wird aufgerissen, der Schnee dringt in die Sennküche und schiebt sich, den ganzen Vorraum ausfüllend, bis an die gegenüberliegende Stubenwand vor. So sind die Leute zwar unversehrt geblieben, aber in der Hütte eingeschlossen. Erst nach langer Arbeit gelingt es ihnen, einen Schacht bis ins Freie durchzugraben. Nun macht man auch Feuer, hängt die nassen Sachen zum Trocknen auf und stillt den Hunger.
Inzwischen sind die anderen Fünf in der Teufelshütte eingetroffen. Es ist so spät geworden, dass sie dort die Nacht zubringen müssen. Die ganze Nacht gehen in der Umgebung Lawinen nieder und erschüttern die Luft, dass die Hütte beständig zittert. An Schlafen ist nicht zu denken. Schon morgens 2 Uhr ist alles auf den Beinen. Gegen 5 Uhr macht man sich auf den Weg. Jeder ist mit einem Bündel Zeug beladen; auch Senzl, die Köchin, geht mit. Die Teufelshütte soll jetzt endgültig verlassen werden.
Es ist Montag, der 24. Dezember. Wieder beginnt der Kampf mit dem Schnee. Schon nach kurzer Zeit müssen die Ersten ihre Last an die Nachfolgenden abgeben, um überhaupt vorwärts zu kommen. Alles ist eine weiße Fläche, von der gestrigen Arbeit keine Spur mehr zu sehen. Gar oft stecken sie bis zum Hals im Schnee. Der Vordermann muss immer wieder abgelöst werden. Das schwerste Stück ist die Strecke vom Gleibach bis zur Breitengerenbrücke. Aber tapfer arbeitet sich die wackere Schar immer weiter vorwärts.
Schon sind sie nahe der Breitengerenhütte, da sehen sie vom Löffler herunter eine Lawine kommen. Ein Entrinnen gibt es nicht. Schnell hocken alle auf einen Haufen zusammen, um, wenn sie verschüttet werden, sich gegenseitig helfen können. Glücklicherweise wird die Kraft der heranbrausenden Lawine durch die Schneemassen, die gestern niedergegangen sind, gebrochen. Die Leute werden nur leicht mit Schnee überdeckt und bleiben unverletzt.
Es ist 3/4 7 Uhr morgens geworden, bis die fünf Männer samt der Senzl bei den übrigen in der Breitengerenalpe eintreffen. Jetzt werden einige Boten fortgeschickt, die aus Einödsbach und Birgsau Hilfe herbeiholen sollen. Die übrigen Leute beginnen mit allen Kräften, sich und den Pferden den Weg ins Tal hinaus zu bahnen. Bei der Rossfälle, der gefährlichsten Stelle, müssen sie, um mit den Pferden durchkommen zu können, einen Graben ausschaufeln, der zum Teil vier Meter Tiefe erreicht. Zu der nur wenige hundert Meter langen Strecke arbeiten sie volle fünf Stunden. Endlich ist man so weit, dass man die Pferde – Geschirr und Schlitten sind zurückgeblieben – durchführen kann. Nun kommt Thannheimer, der Wirt von Einödsbach, mit dem Jagdgehilfen Wilhelm Wiedemann. Er bringt Brot, Speck und Schnaps, was von den erschöpften Fuhrleuten mit Freude und Dank entgegengenommen wird. Aber er kündigt zugleich an, dass es schier unmöglich sein wird, mit den Pferden weiter durchzukommen; denn der ganze Weg ist von Lawinen zugeschüttet.
Also aufs neue an die Arbeit! Es ist schon Mittag geworden und noch eine weite Strecke zu bezwingen. Von der Rossfälle aus wird der Weg unter den Felsen entlang geschaufelt, denn die Lawine vom Alpgundkopf ist noch zu befürchten. Endlich, nach harten zwei Stunden, ist die Buchrainer Alp erreicht, wo inzwischen Leute aus Birgsau eingetroffen sind und sich bemühen, die dort liegende Lawine zu durchbrechen. Wohl macht auch die weitere Strecke über die Buchrainer Stieg noch tüchtig zu schaffen; aber die Hilfskräfte unterstützen die gänzlich erschöpften Fuhrleute, die endlich um 5 Uhr abends im Gasthaus zur Birgsau ankommen und dort von Gastwirt Mayer und seiner wackeren Frau sorglich verpflegt werden.”
Soweit Max Förderreuther mit seiner Geschichte.
Die Arbeit unserer Holzfuhrleute war für diesen Winter im Rappenalptal beendet. Wegen der anhaltenden akuten Lawinengefahr konnten erst Wochen nach Weihnachten Skiläufer bis zur Schwarzen Hütte vordringen und dort Pferdegeschirre und andere Habseligkeiten der Fuhrleute bergen. Erst im Juni 1924 konnte man mit einem Fuhrwerk zur Schwarzen Hütte gelangen und die Schlitten und die restlichen Sachen abholen.
Wenn man die ganze Geschichte heute, mehr als 85 Jahre später, unter dem Eindruck der damals riesigen Schneemassen schon in den Ebenen und erst recht im Rappenalptal betrachtet, kann man die Nöte dieser Menschen, deren täglich Brot die Arbeit unter höchsten Gefahren war, erahnen. Geformt von solchen Ereignissen und dem Kampf mit der rauen Bergnatur, lebten sie ihr Leben. Sie machten ob solcher Erlebnisse, die auch die Ausnahme in ihrem Leben waren, nicht viel Aufhebens.