Vom mittelalterlichen Flurküchenhaus zum heutigen Gästehaus

von Leo Huber am 01.12.2010

Aus der Geschichte des Hauses Blumengasse 3, vormals Haus Nr. 285

Dees Hüs isch ‘s ming und doch idd ‘s ming.
Deä noch mir kudd, ‘s isch öü idd ‘s sing.
Eä kas bloaß hong fr sing kurz Leäbe,
no müeß as schu em Nägschde geäbe.
Dean dreid ba öü amole nüs.
Sag du mir jetz: Weäm keärt dees Hüs?

Dass unser Haus schon sehr alt ist, fühlt und spürt man in allen Ecken und Enden. Generationen von Menschen haben dieses Haus schon betreten und bewohnt und am Ende des irdischen Daseins wieder verlassen müssen.

Die dendrochronologischen Bohrungen und Untersuchungen an Kellerbalken und der östlichen Hauswand zur Blumengasse geben uns Aufschlüsse über die Erbauung des Anwesens. Zuerst stand nur ein Hauswürfel, bestehend aus Stube und Gaden (Schlafzimmer), mit einem kleinen Hauseingang von Süden, welcher auch als Küche diente. Wir nennen diesen Haustyp Flurküchenhaus. Die Balkenuntersuchungen haben ergeben, dass das Holz im Jahr 1458 geschlagen wurde. Es ist deshalb anzunehmen, dass das Haus in den Jahren 1459 bis 1460 entstanden ist.

So lebten nun viele Generationen, natürlich anfangs für uns unbekannten Namens, in diesem Häuschen. Die Bewohner erlebten den Bauernkrieg und mehrere Pestwellen, die über Oberstdorf hereinbrachen. Die „große Pest“ von 1634/35 raffte über 780 Menschen dahin, nur etwa 350 bis 420 überlebten. Dazu kam noch der Schwedeneinfall von 1634, wo 50 Häuser niedergebrannt und 16 Personen ermordet wurden.

Bei der Volkszählung am 9. September 1650 zählte man 227 Häuser im Markt. Infolge der extremen Bevölkerungsdezimierung von 1634/35 wurden natürlich auch die Besitzverhältnisse neu geregelt – das Pestvirus hatte auf arm oder reich keine Rücksicht genommen. Waisen wurden gegen Übertrag von Feldern aus ihrem Besitz an Pflegeeltern von diesen ernährt und großgezogen. Überspitzt könnte man sagen, es teilten sich die ca. 400 Überlebenden das Vermögen von vormals 1.250 Bürgern.

So erfahren wir um das Jahr 1650 nun genaueres von den Personen, die im Haus in der heutigen Blumengasse 3 wohnten. Der erste mit Namen bekannte Besitzer hieß Melchior Lienhardt, verheiratet mit Anna Buel. Weitere Balkenuntersuchungen beweisen, dass in den Jahren 1667 und 1668 Lienhardt einen größeren Hauseingang in Riegelwerk (Fachwerk) mit einer größeren Küche und einen Holzschopf nach Westen zum Garten hin baute. Der Holzschopf diente zur Lagerung von Brennholz für den Winter. Es musste auch das Hausdach erweitert werden. Im Jahr 1684 erweiterte er sein Haus noch einmal, um aus dem Holzschopf eine kleine Kammer und dahinter eine kleine Küche zu erhalten. Das Gebäude stellte sich nun in etwa dar wie auf dem Foto von 1886 ersichtlich ist, da in den 200 Jahren danach nicht mehr viel verändert wurde. Im Jahr 1700 starb Melchior Lienhardt und seine Frau Anna Buel folgte ihm 1707 ins Grab. Eine neue Generation trat nun an.

Flurküchen - Heft 57

Ausschnitt aus dem Oberstdofer Ortsplan von 1910, gez. von F. A. Schratt.

Agnes Lienhardt, die Tochter, heiratete im Jahr 1707 Christian Matt. Agnes wurde sehr alt; sie starb anno 1757 im hohen Alter von 84 Jahren. Es folgte nun der Sohn der beiden, Antonius Matt, verheiratet mit Maria Wörz, die von Rubi stammte. Antonius wurde, für damalige Verhältnisse, ebenfalls sehr alt. 1775 starb er mit 83 Jahren.

Nach einer Erbauseinandersetzung im Jahr 1789 erwarben nun Augustin Matt und Anna Hemer von Buchenberg bei Kempten das Anwesen. Am 13. Januar 1789 bezahlte Augustin seinen zwei Brüdern 300 Gulden für deren Zweidrittel-Besitzanteil in bar. Zum Haus gehörten Brenn- und Bauholz was im Anwesen vorhanden, dann Bretter und Landern sowie ein Tisch und Gautschen (Sofa am Ofen), Bettlade und ein Kleiderkasten. Das war also das Inventar dieses Hauses! Die Kinder der Eheleute nannten die Oberstdorfer „Büechenes”. Das kam von der Herkunft und der Spracheinfärbung von Anna Hemer mit ihrem Kempter Dialekt. Die Nachfahren dieser Sippe leben heute noch in Niederdorf, Gemeinde Obermaiselstein.

Flurküchen - Heft 57

Bauentwicklung

Im Sommer 1784 wurden in Oberstdorf, wie auch in anderen Orten, die Wohnhäuser mit Nummern versehen. Dies geschah aus steuerlichen Gründen, zur Übersicht bei Zwangseinquartierungen von Soldaten sowie zur geplanten Einführung einer Brandversicherung. Von Ost nach West ging die Nummernfolge. Unser Haus erhielt die Hausnummer 285. Straßennamen waren damals noch nicht üblich. Um 1810 nannten die Oberstdorfer unsere kleine Gasse „Schratte-Fränzlesgasse”. Hier stand der Bauer Franz Schratt von Hausnummer 287 Pate.

1787 erfahren wir aus der ersten Feuerbeschau in Oberstdorf auch von den Mängeln im Haus:

1. ist das Kaminschoss (Unterbau am Kamin im Flur) abzuändern;
2. geht der Kamin nicht genug übers Dach (wegen des hölzernen Landerndaches und dem Funkenflug ein Problem).

Jede Gasse hatte und hat teils heute noch einen eigenen hölzernen Brunnen etwa in der Mitte der Straße. Seit urdenklichen Zeiten dienten diese Brunnen den Menschen zur Entnahme von Trinkwasser. Aus dem Trog wurde allabendlich das Vieh der anliegenden Bauern getränkt. Das Recht zur Wassernutzung ist mit der Pflicht zum Erhalt oder zur Erneuerung von Trog und Säule verbunden.

Nutzungsberechtigt am Brunnen in der Blumengasse sind die Hausnummern 281, 282, 283, 284, 285, 286, 287 und 288. An so einem Brunnen wurde damals wie heute gern geratscht über Gott und die Welt und damit die Gassen und Straßen im Dorf mit Leben erfüllt.

Im Jahr 1816 tritt eine neue Generation an mit Antonius Matt und Chatharina Kappeler von Anatswald. Der Sohn von Augustin Matt, mit dem Übernamen „Büechene Done”, übernahm das Haus in der Blumengasse mit einer ganzen Reihe von Schulden. Im Jahr 1829 entschlossen sich Anton Matt und seine Frau Oberstdorf zu verlassen. Sie zogen nach Niederdorf, heute Gemeinde Obermaiselstein.

Am 23. April 1829 erwarben Josef Spiss und Barbara Math um 571 Gulden das Haus Nr. 285. Man nannte Josef wegen seiner Herkunft den „Jöüchelar” (von Jauchen über Oberstdorf). Von den 571 Gulden wurden an Anton Matt jedoch nur 271 Gulden ausbezahlt, der Rest ging ab wegen der Schulden auf dem Haus. Schon sieben Jahre nach dem Kauf des Hauses starb Josef Spiss mit 59 Jahren. Nicht reich an Vermögen, ist nun Barbara Math mit ihren vier ledigen Töchtern auf sich gestellt.

In der Folgezeit spielen sich menschliche Dramen im Hause ab. Juliana, die älteste Tochter, bekommt 1831 und 1836 je ein lediges Kind. 1846 stirbt Juliana mit 38 Jahren. Im selben Jahr stirbt auch die Mutter Barbara mit 62 Jahren. Rosalia, die zweite Tochter, bekommt mit 22 Jahren ebenfalls ein Kind, Vater unbekannt. Judith, die dritte Tochter, stirbt mit 19 Jahren als Dienstmagd in Obergermaringen. Die vierte Tochter, Hildegard, wird 1848 Mutter eines Kindes. In dieser Zeit war das Leben einer ledigen Mutter alles andere als einfach. Doch die Geschichte ist geduldig, sie schreibt auch über solche Dinge irgendwann „in memoriam”.

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Hausansicht aus dem Jahr 1886, vorn Mechthild Thannheimer, am Haus Leopold Haneberg.

Doch die Geschichte des Hauses Nr. 285 geht weiter. Am 25. Juni 1872 verkauften Hildegard Spiss und ihre Nichte Rosa Spiss das Anwesen um 1.100 Gulden an Anton Schraudolf und Therese Übelhör. Schraudolf war sehr rührig und kaufte in der Folgezeit eine ganze Reihe von Grundstücken, um seine Landwirtschaft zu vergrößern. Diese Käufe geschahen aber immer auf Pump. Und so kam es, wie es kommen musste: Zwangsversteigerung! Am 28. April 1881 wurde das Anwesen Nr. 285 in der Blumengasse im Gasthof zum Hirsch in Oberstdorf öffentlich versteigert. Die landwirtschaftlichen Flächen gingen ziemlich schnell an neue Besitzer. Nur das Wohnhaus fand keinen Käufer. Der Hauptgläubiger Karl-Heinrich Ulmer von Steeg im Lechtal wurde nun vorübergehend Eigentümer des Ganthauses.

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Für die vorgesehene Versteigerung des Hauses Nr. 285 am 28. April 1881 fanden sich keine Interessenten (Ausschnitt aus der »Allgäuer Zeitung«).

Erst am 22. April 1882 fand der Vertraute von Ulmer, der Oberstdorfer Bürgermeister Franz-Paul Brack, Käufer mit Leopold Haneberg und Mechthild Thannheimer. Nun wird es ruhiger um das Anwesen. Mechthild begann ein kleines Wäscherei- und Bügelgeschäft. 1904 verkauften die Brüder Haneberg ihr Elternhaus Nr. 174 in der Hauptstraße. Der ledige Bruder Felix zog in die Blumengasse.

Der Verkaufserlös aus dem Elternhaus und dem gesamten Freibergsee wurde verwendet, um das Anwesen großzügig umzubauen. 1904 wird ein zweites Stockwerk aufgesetzt, die kleinen Kammern gegen Westen von der Größe her verdoppelt (Frühstücksraum und Küche). Im heutigen Frühstücksraum wurde eine Drechslerwerkstatt eingerichtet.

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Das Ehepaar Haneberg-Thannheimer in seiner Stube.

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Nach dem Umbau von 1904;
auf der Bank sitzend der Fischer Felix Haneberg. Besitzer des Seealpsees, am Haus Urlaubsgäste.

Im Jahr 1918 starb Leopold Haneberg, 1932 seine Frau Mechthild. Was nun folgte sind fast 40 Jahre Streit im Haus. Ein ziemlich eigenartiger Erbschaftsvertrag der Mutter Mechthild war der Grund dafür.

Erbe des Wohnhauses wurde nun der Sohn Theodor Haneberg, verheiratet mit Christina Bechle. Der Bruder von Theodor, Philipp mit Namen, erhielt das unentgeltliche Wohnrecht im Zimmer Nr. 1 und diverse Grundstücke. Die Schwester Sophie Katzenmüller erhielt lebenslang den ganzen restlichen 1. Stock mit Kelleranteil, Fluranteil, Gartenbenützung usw. Langwierige Streitigkeiten waren damit vorprogrammiert und sind auch so gekommen. Die Hausbesitzer richteten sich deshalb mit einem Treppenaufgang in den 2. Stock im Nordosten eine Privatsphäre ein. An größere Reparaturen konnte man bei diesen Verhältnissen nicht denken.

Von den zwei Söhnen der Hanebergs, mit Namen Josef und Anton, blieb der letztere in Russland vermisst. Der ältere Josef kam, durch Kriegserlebnisse verändert, nach 10 Jahren an der Front als ernster doch grundehrlicher Mensch zu seinen Eltern zurück. Nach deren Tod erbte Josef Haneberg das ganze Anwesen. Pflichtteilansprüche der Geschwister und Geschwisterkinder zwangen ihn zum Verkauf des Hauses.

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m Sommer 1923 – Gäste aus Berlin sind mit dem Automobil angereist.

Diverse Wohnbaugesellschaften, die sich für das Anwesen interessierten, planten den Abriss des alten Hauses, um ein zeitgemäßes 6-Familien-Haus zu erstellen. Uralte Fenster, keine vernünftige Heizmöglichkeit, ein marodes Dach und nur eine Wasserentnahmestelle je Stockwerk waren keine guten Argumente zum Erhalt des Hauses Blumengasse Nr. 3. Auch Stadel und Stall drohten nach Norden zu kippen.

Josef Haneberg verkaufte jedoch dankenswerter Weise sein Haus im Jahr 1969 an die Witwe Viktoria Huber geb. Spiegel vom Nachbaranwesen. Zwar ohne Garten im Süden, jedoch mit der Absicht, sein Elternhaus zu erhalten, ermöglichte Josef einer neuen Generation, ein Stück Alt-Oberstdorf vor der Spitzhacke zu bewahren. Sofort wurden nun die ersten notwendigen Verbesserungen angegangen.

Im Jahr 1974 heiratete der Sohn Leo Huber die Kleinwalsertalerin Monika Fritz von Unterwestegg. Im September des gleiche Jahres übernahmen die beiden das Anwesen. Mit großem Elan und einem Schuss Idealismus ging das junge Ehepaar ans Werk und sanierte grundlegend das aus mittelalterlicher Zeit stammende Haus, um auch künftigen Generationen eine Heimat zu bieten.

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Das Anwesen Blumengasse Nr. 3 heute.
(ehem. Haus Nr. 285)

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1. Vorsitzender
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