Siegel mit Familienwappen
Der Verlauf dieser Geschichte begann in unserer Partnerstadt Megève in Savoyen in Frankreich.
Anläßlich einer Landwirtschaftsmesse in Megève, vor ca. 10 Jahren, wurde auch Oberstdorf eingeladen, sich mit der Präsentation landwirtschaftlicher Erzeugnisse aus heimischen Betrieben sowie an der Ausstellung traditioneller Handwerksprodukte zu beteiligen. Diese Veranstaltung fand in der Tennis- und Eishalle, dem „Palais du Sport” statt. Damals betreute ich den Info-Stand der Kurverwaltung Oberstdorf. Vor Jahren war ich als Skilehrer in Megève tätig gewesen, daher reichten meine Französischkenntnisse aus um die vielen Fragen über den Partnerort Oberstdorf beantworten zu können.
Während dieses Aufenthaltes hat sich nun Folgendes zugetragen.
Ein Franzose, der mich vielleicht vorher schon beobachtet hatte, drückte mir zwei Gegenstände in die Hand. Weiter nichts – kein Kommentar, wieso oder warum, kein Name, keine Adresse. Er tauchte sofort in der Besuchermenge unter. Da am Infostand reger Betrieb herrschte, legte ich die Gegenstände zur Seite und betrachtete sie erst am Abend im Hotelzimmer.
Zum einen handelte es sich um eine Käseschachtel mit der Aufschrift „Berggold Camembert Möggers-Vorarlberg“, die gesammelte Siegelstempel ehemaliger Familienwappen von Fürstenhäusern, Franziskanerorden und dergleichen enthielten. Das älteste Siegel trägt die lateinische Umschrift „ADVERSOS : ORANDO : AVERTITE : CASUS : M·D·L·LXXXVII,
was bedeutet:
„Durch Beten wendet ihr ab die widrigen Umstände des Lebens · 1587“.
Der zweite Gegenstand war ein auf Pergament und handschriftlich in Latein verfasstes Dokument, datiert mit „anno 1640” und verziert mit einem von Hand gemalten, mehrfarbigen Medaillon.
Nachdem ich keine Vorstellung hatte woher dieses Dokument stammte und was der Text bedeutet, war mir doch bewusst, dass es sich um ein geschichtsträchtiges Schriftstück handelt. Die wunderschöne Malerei der Urkunde ließ erkennen, dass sie einem kirchlich-religiösen Ursprung zuzuordnen ist. Einerseits war das Dokument für mich persönlich wertlos, andererseits wollte ich es auch nicht aus der Hand geben. Ich musste also eine kompetente Person finden, die des Lateinischen mächtig ist und der ich auch vertrauen konnte. Da mir spontan niemand einfiel, landete das gute Stück erst mal wieder in meiner Schublade.
Der Zufall brachte plötzlich Bewegung in die Geschichte. Trudi Heckmair, mit der ich seit meiner Jugendzeit freundschaftlich verbunden bin, erzählte ich nur zufällig, während sie bei uns zu Besuch war, wie ich zu dieser Urkunde kam. Als ich ihr dieses historische Schriftstück zeigte, fiel ihr spontan ein Schulfreund ein, der eventuell Licht ins Dunkel bringen könnte. Frau Heckmair setzte sich daraufhin mit Dr. Thaddäus Steiner, Historiker und Namenforscher in Verbindung.
Dr. Steiner und der ehemalige Lateinlehrer am Oberstdorfer Gymnasium, Herr Xaver Frommknecht, kamen nach dem Studium dieses nicht einfach zu lesenden, im damaligen Kirchenlatein verfassten Dokumentes zu folgendem Ergebnis, hier in Kurzfassung wiedergegeben:
Am 19. Juni 1640 stellt Franciscus Galasinus, Magister der Theologie und Sachwalter des gesamten Ordens der Dominikaner, als Generalprokurator in der Römischen Kurie diese Urkunde aus, verbunden mit einer verbindlichen Anleitung zur Verehrung der seligsten Jungfrau und Gottesmutter. Im Mittelpunkt dieser Verehrung steht die Rosenkranzbruderschaft, die auch für Frauen offen ist. Es folgt eine Erklärung des Aufbaues und der Bedeutung des Rosenkranzgebetes. Als besondere Aufgabe wird genannt die meditierende Betrachtung des Lebens des Erlösers Jesus Christus.
Wohl um dieses Anliegen zu stärken, soll auf dem Gebiet von Bartholomäberg in der Diözese Chur, auf dringen Wunsch der Gläubigen, eine Kapelle errichtet werden durch die Vermittlung des Kuraten Lucius Hauser und des Herrn Joannes Fritz. Mit dem Bau sind Vergünstigungen verbunden; allerdings ist von anderen kirchlichen Einrichtungen der Umgebung noch das Einverständnis zum Bau einzuholen. Mit Nachdruck werden die Aufgaben der Bruderschaft eingefordert, die Uneigennützigkeit der Verantwortlichen wird zur strengen Pflicht gemacht. Sollte die bewilligte Kapelle ihre Privilegien, darunter auch die Gewinnung von Ablässen verlieren, müsste alles an die Kirche übergeben werden.
Der Schwerpunkt der Urkunde liegt eindeutig auf der Förderung der Verehrung von Jesus und Maria.
Des weiteren brachte Trudi Heckmair Name und Anschrift des Montafoner Heimatforschers Emil Scheibenstock, Rektor i. R., in Bartholomäberg, in Erfahrung, setzte sich mit ihm in Verbindung, erzählte ihm von der Urkunde und sandte ihm eine Kopie derselben. In seinem Antwortschreiben bekundete er sein ausgesprochenes Interesse am Original dieser Urkunde, die ja seine Heimatgemeinde betraf. So beschlossen wir gemeinsam, Trudi und ich, Herrn Scheibenstock in Bartholomäberg zu besuchen, um ihm persönlich das Original zu überreichen. Sichtlich angetan zeigte er sich von dem, was er nun als Originaldokument zur Geschichte von Bartholomäberg in Händen hielt. Gespannt folgten wir auch seinen interessanten Erzählungen über die Bergbaugeschichte seiner Heimat, in der bereits in karolingischer Zeit Edelmetalle gefördert wurden.
Froh darüber, daß nun diese Urkunde im Jahre 2011 wieder an ihren Bestimmungsort zurückkam, verabschiedeten wir uns von Herrn Scheibenstock.
In einem Schreiben vom 18. 5. 2011 an Frau Heckmair ließ er uns wissen, dass das Original der Urkunde nun im Archiv des Montafoner Heimatmuseums Schruns aufbewahrt wird. Eine Kopie wurde im Museum in Bartholomäberg abgelegt.
Der in der Urkunde genehmigte Bau einer Kapelle kam allerdings nicht zur Ausführung, wie Herr Scheibenstock auf Nachfrage in einem Schreiben vom 14. 9. 2012 erklärte.
Nachdem die Urkunde ihren rechtmäßigen Platz wieder gefunden hat, darf die Frage wohl erlaubt sein, wie dieses Dokument überhaupt nach Frankreich kam. Es ist allgemein bekannt, dass Vorarlberg 1945, wie anfangs auch Oberstdorf, als Folge des Zweiten Weltkrieges von Franzosen besetzt war. Denkbar wäre, dass die Besatzungstruppen beim Verlassen des Landes u. a. auch historische Gegenstände als Erinnerungsstücke mit nach Hause nahmen. Gegebenheiten und Situation sowie einzelne Vorkommnisse der damaligen Zeit lassen sich aber heute nicht mehr genau nachvollziehen.
Gerne würde ich heute diesem Herrn, der mir damals in Megève die Urkunde übergab, mitteilen, dass sie über Umwege wieder an ihren rechtmäßigen Ursprungsort zurück kam. Ich denke, es wäre für ihn auch Genugtuung und Freude von dem „Happyend” dieses historisch wertvollen Pergamentes zu wissen. Warum auch immer hätte er sie mir sonst anvertraut.
Dafür, dass die „Reise” dieser Urkunde, mit allen damit verbundenen Bemühungen, zu einem erfolgreichen Abschluss kam, möchte ich mich bei allen Beteiligten bedanken.