Kopie der HL. Familie
"Die Perle"
von Sophia Gschwender
Sodann folgen die Berichte über die Einholung von Attesten, die uns bereits aus der vorherigen Broschüre bekannt sind, einschließlich des französisch gefaßten Originaltextes von der Bayer. Gesandtschaft in Rom, den wir aus seiner Übersetzung bereits kennen. Er lautet: „Les soussignes declaront d'apres avoir fait un scrupuleuse examination, que le delicieuse petite tableau de Madame Sofie Gschwender, representant la Madonna, qui tient Jesu sur ses gnoux embrassant St. Jean, etc. - est un vrai original - et entierement analogue aux grands nombres des reproduction en detailes, qui se fond voir dans les oeuvres de la propre main de Raffael Sanzio ici a´ Rom, soit en art, couleurs et dessin; deplus voyant cette petite composition traite en maniere large et Raffaelesque irrefragable! - il serait totalement impossible, de le pouvoir attribuer a un autre artiste, que a´ lui meme! netrouvant point les memes preuves d’ analogic dans les ouevres de ses imitateurs.
Roma le 15. Mai 1879
Sie erzählte dann weiter: „Nun wurde meine Neugierde erst wach - in wie ferne das Bild ein Modell gewesen sein könne, (nach der Tradition) und so fing ich dann aufs neue an in der Minerva alles zu lesen, was über Rafael geschrieben wurde. Ich fand auch da bald den Kopf mit dem Wellenhaar hier bei Johannes von Rafael selbst - (nach Masaccio gezeichnet;) wie die Madonna in delici, ganz gleich mit der Madonna im Musterbilde hier!”
Dann kommt der Verfasser auf die verloren gegangenen Bilder Raffaels, die er in Rom malte, zu sprechen: „Im Palais Corsini durchsah ich Blatt für Blatt die ganze Stampensammlung (über 2000 Volums), da fand ich die Stampe von Rafael analog zum Musterbilde - in Gallerie Pitti illustrade Vol. 3 nebst 30 Beweispunkten. - Nach diesen Forschungen ging ich dann nach Florenz zurück, um die oben besagten Rafaelischen Studien nach Masaccio - Leonardi - Signorelli und Fra Bartholome zu verfolgen, da ich bald alle jene bezeichneten Details im Bilde auch bei jenen deutlich fand, und dazu, daß Rafael, bevor er nach Rom kam, in keinem seiner Bilder die Züge der Madonna vom Musterbilde hatte; - die letzten waren die Madonna im Grünen und die bell’ Jardiniere, welche aus II. Schule noch nicht die Gesichtszüge vom Musterbilde haben.
Dagegen weiß heut zu Tage jeder Laie, daß bei allen Madonnen, welche Rafael in Rom machte - die Gesichtszüge zu einander gleich sind - und hier sieht man, daß sie alle denen im Musterbilde ähnlich sind (obgleich in anderer Stellung) - besonders sind die Caritas - hier mit mehreren Zeichen - und die Madonna in delici durchaus übereinstimmend zu einander, wie mit der Madonna im Musterbilde.”
Einzeln zählt der Verfasser dann die 10 bedeutendsten unter den vielen verlorenen Bildern Raffaels auf, die Dr. Passavant in seiner französischen Ausgabe auf pag. (pagina — Blatt, Seite) 400 - 499 macht. Da wird angeführt: „pag. 245 peint pour le Cardinal de Boisy une St. Famill. Jesus küsst St. Jean. - inconnu (Musterbild probabl.)” Zu deutsch: Blatt 245, Gemälde für Kardinal de Boisy eine Hl. Familie Jesus küsst St. Johann. - unbekannt (Musterbild wahrscheinlich).
Daraufhin fährt der Verfasser fort: „Angesichts dieser Tatsache wichen alle Zweifel - ich sah klar ein, daß nur das vorliegende Bild das einzig echte, und wahre Musterbild zu Rafaels III. Schule sein könne, das Rafael in Florenz als Richtschnur für Colorit - Drapperie und Terrain etc. in seiner neuen Entwicklungsperiode für Rom vorbereitete; und als er dort die Fornarina fand, ihr Portrait mit dem lieblichsten Ausdrucke als Madonna hineinsetzte. - Dann zeigte die Dame mir das zu modern beginnende Kastanienholz am Bilde, worin der Name Raffaello eingegraben ist.
Seit 1860 soll das Bild aus dem Dunkel gezogen worden sein - und alle Anstrengungen, ein anderes ähnliches zu finden - blieben vergebens, nur halbe und schlechte Copien von Rafaels Schülern zeigen am Originale - daß sie es nicht copieren durften, sondern nur nach einer von Ferne abgezeichneten Skizze arbeiteten.
Um übelwollende gegenteilige Aussagen zu entkräftigen, stellte die Besitzerin die „Beweise für die Echtheit der Rafael´schen Bilder in Oberstdorf zusammen, durch die der Verfasser Adolf R. nach seiner 1895 veröffentlichten Broschüre in einer Wirtsstube auf die Bilder aufmerksam wurde. Sie sollen mit dem Schluß der 2. Broschüre hier angefügt werden.
Zuletzt erfahren wir bei der nochmaligen Zusammenfassung der Untersuchungs- Atteste von Professor Riedel, Herrn Emil Wolf und Inspektor Brogi aus Sienna noch den Namen des von ihm entdeckten falschen Raffael-Bildes, „das sich als eine, in einem ganz faden Tone gemachte Copie nach Rafaels Stamp darstellt und von einem gewissen Rottenhammer gemacht wurde!”
Was „Musterbilder” sind, habe ich im letzten Weltkrieg in Rußland kennen gelernt. Ein Reserveoffizier, in Zivil Industrieller aus Westfalen, lud mich ein, in einem Städtchen des ukrainischen Donezbeckens mit ihm zu russischen Malern zu gehen, um ein paar Bilder auszusuchen, die er kaufen wollte. Wir fanden auch einen älteren Maler, dessen Bilder, meist Landschaften aber auch Volkstümliches und religiöse Motive, uns gefielen. Zwei oder drei Stück wurden ausgewählt. Als wir nach dem Preis fragten, sagte er, diese seien nicht verkäuflich und blieben als Musterbilder in seinem Besitz, man könnte aber Neuanfertigungen danach bestellen und die gewünschte Größe angeben, dann wolle er sie in zwei bis drei Wochen fertigstellen. Oberleutnant B. ging darauf ein und so wurden die Bilder für ihn gemalt.
Dieses Malen nach Mustern hat in Rußland eine uralte Tradition. Der russische Dichter Maxim Gorki berichtet in seinem Lebensroman „Unter fremden Menschen” (herausgegeben im Verlag der sowjetischen Militärverwaltung in Deutschland, Berlin 1946, in deutscher Übersetzung) ein Beispiel. Er beschreibt im 13. Kapitel die Arbeit von 20 Heiligenmalern, die in einer Werkstatt Bilder für Heiligenschreine und Altartüren nach Vorbildern malen. Lebendig schildert er die Zusammenarbeit der vielen Gehilfen, vom schielenden Tischler Panifil, der die Tafeln aus Zypressen- oder Lindenholz zurechthobelt und dem schwindsüchtigen Pawidow, der sie grundiert; sein Genosse Miljaschin führt die Aufzeichnung nach dem Original aus, der alte Gogolew bringt die Vergoldung an und prägt die Muster darauf, die „Kleidmaler” führen die Kleidung und die Landschaft aus, dann stehen die Bilder da, ohne Gesicht und Hände, bis sie der „Gesichtsmaler” vornimmt. Dann kommt vom Meister die Ziselierung und von einem Spezialisten die Beschriftung dazu. Zum Schluß besorgt der Vorsteher der Werkstatt, der die Arbeiten überwacht hat, das Lackieren.
Ähnlich mögen auch z. B. in italienischen und holländischen Meisterwerkstätten die Gehilfen zur Ausführung von Teilarbeiten nach Entwürfen des Meisters herangezogen worden sein, wahrscheinlich aber nicht in diesem Umfange, wie in den Ländern der byzantinischen Kirche, wo man auf stur ähnliche Wiederholungen der Heiligentypen, besonders in den Ikonen, Wert legte.
Seit der Erfindung der künstlerischen Drucktechniken (Holzschnitt und Kupferstich im 15. Jahrh., Radierung 16. Jahrh.) wurden die Arbeiten der großen Künstler weithin verbreitet und auch nachgeahmt. Sie waren für die Nachahmer eine Art „Musterbilder”, die man beliebig variierte. Wir haben im Oberallgäu einige Beispiele aus alter Zeit, so in Genhofen die Sippendarstellungen auf den Flügeln des nördlichen Seitenaltars nach einem Holzschnitt von Lukas Cranach aus dem Jahre 1509 (Abb. in H. Mader „Stiefenhofen” 1983 auf Seite 30) und in Rohrmoos Gemälde am Flügelaltar von 1568, unter Verwendung von Motiven aus Albrecht Dürers Holzschnitten gemalt
Daneben fertigte man auch schon seit alter Zeit Kopien von Bildern an, insbesondere von Herrscherporträts und Adligen für Schlösser, und Heiligenbilder für Kirchen.
Sophie Gschwender hat eine ganze Reihe Kopien nach Meisterwerken für ihre Galerie gemalt, von Raffael nicht nur eine ihres geliebten Musterbildes, sondern auch die eines „Christus am Kreuz” und die noch in Oberstdorfer Privatbesitz erhaltene wundervolle Kopie der Heiligen Familie, genannt „Die Perle”. Sophie Gschwender hat sie in Madrid nach dem im Prado hängenden Original gemalt, wie ich bereits in der Gesch. d. M. Oberstdorf T. 4 S. 304 berichtete.
In der lieblichen Bewegtheit der Gruppe von Maria und Elisabeth mit Jesus und Johannes und dem malerischen Hell-Dunkel-Aufbau erkennt man den Entwurf des in der Spätzeit besonders unter dem Einfluß Leonardo da Vincis stehenden Meisters Raffael. Vor dem in seiner Werkstatt im Hintergrund schaffenden Zimmermann Josef und der oben rechts in fernem Licht zu Seiten eines Flusses gelegenen Stadtlandschaft haben sich im Abendsonnenschein die Frauen mit ihren nackenden Kindern im Freien auf der Wiese niedergelassen. Mittelpunkt ist der aus seiner Korbwiege heraussteigende zum Himmel aufblickende Christusknabe, während Maria die Gruppe überragt.
Mag auch das um 1518, also kurze Zeit vor Raffaels frühem Tode entstandene Originalbild großenteils von Guliano Romano, Raffaels Meisterschüler und Gehilfe, ausgeführt worden sein, so sind doch der Scharm der göttlich-menschlichen Gestalten, die gesamte Bildanlage, Farbgebung und Lichtführung echt raffaelisch.
Aus der Spätzeit Raffaels entspricht der Figurengruppe im Familienbilde „La Perla” am meisten eine ähnliche in der „Madonna del divin amore” (der göttlichen Liebe), Villa Borghese, Rom (Abb. in W. Spemanns „Kunstlexikon”, Berlin und Stuttgart 1905, Tafel 46).
In der Malweise am nächsten kommt der „Perla” jedoch Raffaels letztes Werk, die „Verklärung Christi” von 1519/20
Besonders erinnert die schlaglichtartig beleuchtigte Figurengruppe im Vordergrund an die Hl. Familie im Prado. Aber auch Einzelheiten entsprechen sich in beiden Gemälden, so rechts oben der von zwei gleichartigen Bäumen gerahmte Durchblick in die Landschaft (Santi S. 78) und rechts unten die mit fast den gleichen Gräsern und Pflanzen bedeckte Wiese, bei der sogar der bräunliche Abbruch des Rasenstücks nicht fehlt. Bei beiden dürfte dieselbe Studie Raffaels zugrunde gelegen haben.
Sophia Gschwender ist für Oberstdorf eine zweite Angelika Kauffmann geworden. In einer Zeit, die sich mit Begeisterung der Renaissancekunst des wiedererstarkten Italiens aufschloß, bildete sie sich als Autodidaktin zu einer tüchtigen Malerin und Kunstsammlerin heran, die große Schätze in ihrem Heimatort zusammentrug.
Sie entstammte einer begüterten Krämerfamilie. Ihr Vater Josef Anton, Krämer im Hause Nr. 147 an der Markt-Ostseite hatte am 31.1.1804 Elisabeth Sigler geheiratet. Sophies Taufpriester, dem hochwohlgeborenen Herrn Jos. Anton Sigler, ist aus Liebe und Dankbarkeit von seinen Verwandten ein Gedenkstein im westlichen Vorzeichen der Oberstdorfer Pfarrkirche gesetzt worden. Danach war er ein frei resignierter Pfarrer zu Klingen, der als Benefiziat zu Aislingen (nicht Kisslingen, wie das KDM Sonthofen auf S. 622 vermerkt) am 6. Oktober 1845 verstarb. Sollte er seinem Taufkind Sophia nicht ein wenig die Wege geöffnet haben?
Nach dem schon ein Jahr nach dem Galeriebau am 25. Februar 1897 erfolgten Tode Sophie Gschwenders wurde ihr großes kulturelles Erbe an ihre Brüder, bzw. deren Kinder verteilt. Das Haus Nr. 228 1/2 wurde an die Familie Knaus verkauft, die hier das heute noch bestehende Cafe einrichtete.
Nach der Überlieferung sollen von den ca. 140 Bildern 45 an ihren Bruder Bernhard gekommen sein, welcher 15 Stück an seine Verwandten nach Rußland schicken ließ. 45 Stück gelangten an einen Sohn eines ihrer Brüder nach Schöllang, 45 Stück erhielt die jüngste Tochter ihres Bruders, des Uhrmachers Ignaz, Frau Augusta, verheiratet seit dem 27. April 1880 mit dem Konditormeister Gustav Stempfle von Oberstdorf. Weitere Bilder soll ein jüngerer Sohn des Urmachers Ignaz Gschwender vom Haus Nr. 147 (1839 mit Krämergerechtsamkeit) mit Namen Luitpold Gschwender, verheiratet mit Johanna Brutscher, Tiefenbach Haus Nr. 24, bekommen haben, wo sie 1901 beim Hausbrand zugrunde gingen.
Von dem Schicksal der Raffaelbilder wurde bereits berichtet.
Der Bestand an Bildern der Galerie umfaßte folgende Bildgruppen:
1. Landschaften
2. Religiöse Bilder
3. Genrebilder
4. Porträts
5. Blumen- und Früchtestücke
Sophie Gschwender möge als eine außergewöhnlich begabte, temperamentvolle, schaffens- und unternehmungsfreudige Dame im Gedächtnis der Oberstdorfer bleiben. Ihre ganze Liebe galt, wie vielen Zeitgenossen, dem frühvollendeten Raffael Santi, dessen Bildwerke einst einen Mittelpunkt in ihrer Galerie bildeten.